Apothekerlehrlinge
„Bei Dir reicht es nicht mal zum Apothekenlehrling“ wurde Justus von Liebig (1803-1873) von einem Lehrer beschieden, als er das Gymnasium ohne Abschluss verließ. Dennoch versuchte er es mit einer Lehre in der Apotheke zu Heppenheim an der Bergstraße. Nach etwa einem Jahr musste er aber auch dort vorzeitig abbrechen, weil er bei chemischen Experimenten einen Dachstuhlbrand verursacht hatte.
Viele ehemalige Apothekerlehrlinge kamen später in anderen Berufen zu Ruhm und Ehre. So etwa Johann Friedrich Böttger, Carl Spitzweg, Georg Trakl oder Theodor Fontane. Die meisten Lehrlinge waren jedoch einfacher gestrickt, und bei der anstrengenden Mörserarbeit waren ohnehin eher körperliche Talente gefragt. Zudem konnte man von einem Lehrling natürlich nicht erwarten, dass er von Anfang an Latein konnte oder anderweitig in der Lage war, Substanzen in Apothekengefäßen zu identifizieren. Auch Gesellen waren nicht immer sattelfest, sie befanden sich häufig auf Wanderschaft und konnten aufgrund ihrer begrenzten Aufenthaltsdauer nur schwer eingeschätzt werden. Und schließlich waren vor der Erfindung der Glühbirne auch die Lichtverhältnisse in geschlossenen Räumen problematisch.
Aufgrund all dieser Unwägbarkeiten bestand daher die reale Gefahr, dass eine falsche Substanz im Mörser landete oder es bei der Abfüllung vom Standgefäß ins Arzneiabgabegefäß zu einer Verwechslung kam. Insbesondere bei Giften, starken Schmerzmitteln oder ätzenden Säuren sollte dies natürlich unter allen Umständen verhindert werden. Im Laufe der Jahrhunderte wurden dazu die unterschiedlichsten Maßnahmen ergriffen, die die Medizinalordnungen im Territorialstaat Deutschland sehr unterschiedlich regelten.
Dies änderte sich erst mit der Reichsgründung unter Bismarck 1870 mit einer einheitlichen Verordnung. Zunächst einmal wurde der sprichwörtliche „Giftschrank“, den es in einigen Territorien (z. B. Preußen) schon lange gegeben hat, zentral eingeführt und musste mit „Venena“ (Gifte) oder (seit dem ersten Deutschen Arzneibuch 1872) „Tabula B“ (nach der Übersicht der Substanzen in Tabelle B dieses Wälzers) beschriftet sein. Jeder Lehrling wusste dann, was aus diesem Schrank genommen wird, das ist mit Vorsicht zu verwenden – in der Regel trug aber der Apotheker selbst den Schlüssel zu diesem Schrank Tag und Nacht bei sich. Ein Foto vom Giftschrank des Apothekariums findet sich auf dem Titelblatt unseres bald erscheinenden Kalenders 2023.
Einst musste der Giftschrank sogar vierfach gesichert sein, die Gifte getrennt nach Alkaloiden, Quecksilberverbindungen, Arsenverbindungen und sonstigen Giften.
Neben dem Giftschrank musste natürlich auch der Zugang zum Labor reglementiert werden. Dies hinderte aber beispielsweise den Lehrling Böttger 1701 nicht daran, zahlreiche nächtliche Experimente durchzuführen und am Ende – als Geselle – sogar scheinbar aus wertlosen Metallen Gold zu machen. Regelmäßig bediente er sich dabei auch der Substanzen aus dem Giftschrank, dessen Schlüssel er dem Lehrherrn mehrfach entwendete. Es war also selbst für den wohlhabenden Berliner Apotheker Friedrich Zorn eine Herausforderung für eine gewissenhafte und doch praktikable Aufbewahrung gefährlicher Substanzen zu sorgen.
Aber auch wenn der Giftschrank ordnungsgemäß gesichert war, dann nutzte das nur in der Apotheke selbst etwas. Sobald der Kunde den Gefahrstoff in die Arzneiabgabegefäße abgefüllt nach Hause trug, war an eine vorschriftsmäßige Lagerung natürlich nicht mehr zu denken. Abhilfe sollten hier besondere Gefäßformen schaffen, so dass man beim Griff ins Küchenregal gleich einen haptischen Hinweis erhielt. So wurden beispielsweise sechseckige Flaschen mit geriffelten Seiten (Hinweis für auschließlich äußerliche Anwendung) eingeführt. Ein reliefiertes Totenkopfsymbol mit gekreuzten Knochen oder eine geprägte Aufschrift „GIFT“ sollten außerdem verhindern, dass es nach Aufbrauchen des Inhalts zu einer Zweitverwendung kam. Denn sonst hätte es leicht dazu kommen können, dass in einem Haushalt eine Reihe attraktiver Flaschen im Umlauf sind, von denen einige Gift enthalten und andere eine harmlose Substanz.
Feuerrote Holzdosen dienten vor allem im 18. Jahrhundert zur Aufbewahrung von Giften. Im Blog-Beitrag Mordgift oder Rosskur zeigen wir eine solche Dose für „Arsenicum Album“, im Volksmund Arsen genannt, sowie die dazugehörigen Bezugsscheine.
Speziell für Morphium und ähnliche Schmerzmittel wurden dreieckige Flaschen verwendet und die Beschriftung in Rot sollte ebenfalls für Aufmerksamkeit sorgen. Rot auf Weiß bedeutet Separanda – also getrennt von den übrigen Substanzen aufzubewahren (nicht aber im Giftschrank). Die Vorschrift galt für Betäubungsmittel, Opiate, Codein, Jodverbindungen und andere in der Tabelle C des Deutschen Arzneibuchs (seit 1872) aufgeführten Substanzen.
Eine sonderliche Erfolgsgeschichte war die Dreiecksflasche wohl nicht, denn diese Flaschenform hat heute eher ein kultiges Image. Am Bekanntesten ist sicherlich die dreieckige Flasche der Glenfiddich Distillery (1957), und bereits 1935 kam Sanostol mit einem dreieckigen Design auf den Markt. Da dieses Nahrungsergänzungsmittel vor allem in Apotheken angeboten wurde, hätte man sicherlich eine andere Flaschenform gewählt, wenn das Dreieck noch in irgendeiner Form mit Morphium in Verbindung gebracht worden wäre.
Optisch deutlich weniger attraktiv, aber dadurch wohl auch wesentlich effektiver waren die pechschwarzen Etiketten (siehe nebenstehende drei Exemplare aus der Hubertus-Apotheke), die für alle Gifte der Tabelle B Vorschrift waren. Bei der Wahl der Schriftfarbe hat sich das Deutsche Arzneibuch allerdings auf das eher harmlos anmutende Weiß festgelegt. Darüber hinaus bestand bei Klebeschildchen immer die Gefahr, dass sie sich im Lauf der Zeit lösten oder mit Absicht entfernt wurden. Deshalb musste der Giftschrank mehrfach gesichert und zudem das Vermischen unterschiedlicher Gifttypen verhindert werden.
Während in Deutschland Braun vorgeschrieben war, konnten in anderen Ländern auch andere Farben für den Glaskörper gewählt werden. In Frankreich war neben Weiß Kobaltblau üblich. Links sehen wir eine kobaltblaue, französische Giftflasche des 19. Jahrhunderts.
Arzneiabgabegefäße durften im Gegensatz zu Standgefäßen auch in Deutschland andere Farben haben. So finden wir die kombinierten Warnsignale – reliefierte Totenköpfe, seitliche Riffel für „nur äußerlich“ – rechts abgebildet auf einer giftgrünen Sechseckflasche. Doch auch bei Arzneiabgabegefäßen setzte sich die seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts erhältliche Braunglasflasche vor, die bei Standgefäßen ohnehin vom Deutschen Arzneibuch aus Lichtschutzgründen vorgeschrieben war. Denn nur diese bietet die dafür notwendigen Absorptionseigenschaften bei kurzwelligem Licht. Dementsprechend hat sich diese Flasche seit etwa der Mitte des 20. Jahrhunderts durchgesetzt, denn darin kann man dann sowohl lichtempfindliche als auch unempfindliche Substanzen aufbewahren. Auch die gemeine Bierflasche profitiert von dieser Erkenntnis: die Bitterstoffe im Hopfen werden durch „Braunglas in Apothekenqualität“ optimal geschützt.
Von all diesen Maßnahmen der Vergangenheit ist so gut wie gar nichts mehr übrig geblieben. Die „preußische Bürokratie“ ging noch davon aus, dass möglichst detaillierte und über alle Apotheken gleiche Vorschriften die Fehlerquote minimierten. Diese Vorstellung ist einer modernen Auffassung des Qualitätsmanagements gewichen, wo dem einzelnen Apotheker nur noch abstrakte Ziele, sowie eine umfassende Dokumentationspflicht vorgegeben werden.
Die heutige Apotheke, die nur noch 1 % ihres Sortiments selbst herstellt, kennt keine Gifte als Ausgangssubstanzen mehr, sondern lediglich Gefahrstoffe, die in Fertigmedikamenten verarbeitet sind. Diese müssen separiert aufbewahrt und dokumentiert werden.
Somit sind alle Giftschränke, skurrilen Flaschenformen und auffällig gestalteten Etiketten heute museale Exponate einer historischen Apotheke.