Eisernes Kreuz?
Wir konnten für das Museum zwei interessante Holzdosen erwerben, die durch einen Deckel in Form des eisernen Kreuzes bestechen. Oder handelt es sich dabei nur um eine zufällige Ähnlichkeit?
Naheliegend ist zunächst die Vermutung, dass diese Dosen nicht in einem klassischen Regal standen, sondern in einer Kiste gelagert wurden. Denn die Informationen zu Inhalt und Dosierung stehen oben auf dem Deckel, was bei Holzdosen unüblich ist. Normalerweise ist der Inhalt auf der Frontseite mit einem Schriftfeld bezeichnet. Dosierungsinformationen fehlen entweder ganz oder sind handschriftlich auf der Innenseite des Deckels vermerkt. Bei den vorliegenden Exponaten gibt es zwar eine frontale Kartusche, aber die ausführlicheren Informationen befinden sich auf dem Deckel. Dementsprechend könnte man davon auszugehen, dass der Apotheker diese Dosen zumeist von oben betrachtet hat. Alsbald wurde die These an uns herangetragen, dass sich die Dosen in einer Transportkiste für eine Feldapotheke im Ersten Weltkrieg befunden hätten. Obwohl wir die Dosen zunächst für wesentlich älter hielten, hat uns diese These durchaus fasziniert. Bei genauerem Nachdenken und weiteren Recherchen kamen dann aber erhebliche Zweifel auf.
Zum einen sind im Feld genutzte Behältnisse vor allem robust, günstig und unkompliziert – drei Attribute, die auf diese Holzdosen nicht zutreffen. Vor allem aber enthalten Feldapotheken keine Simplicia (Zutaten), die der Apotheker erst noch zu fertigen Medikamenten verarbeiten muss, sondern selbstverständlich Fertigpräparate, die sofort einsetzbar sind.
„ … dort stets in der Art bereit gehalten, daß das schon völlig präparierte Medikament nur von dem Feldarzt entnommen und zur Anwendung gegeben zu werden brauchte.“
aus: „Die Medicinal-Einrichtungen des königlich Preußischen Heeres … bis zum Jahre 1825“
Hier haben wir es aber zum einen mit Jaborandiblättern zu tun, die recht potente Alkaloide enthalten und daher sehr vorsichtig verarbeitet werden müssen (in Deutschland außerhalb homöopathischer Verdünnungen heute verboten). Die andere Substanz ist das Harz der Jalapewurzelknolle, das in hohen Dosen auch tödlich sein kann und ebenfalls nicht mehr zum Arzneischatz gehört. In beiden Fällen handelt es sich also nicht um direkt einsetzbare Arzneimittel, sondern – wie man auch an der roten Schrift erkennt – um Separanda, also gemäß dem Deutschen Arzneibuch separat vorsichtig zu lagernde, potente Wirkstoffe. Eine solche Lagerungsmöglichkeit dürfte es im Feld kaum gegeben haben, ein stationäres Militärhospital wäre aber natürlich denkbar. Jedoch würde man dann beide Substanzen in den einschlägigen Militärpharmakopöen erwarten, was aber nur bei der Jalape der Fall ist. Generell war der militärische Arzneischatz deutlich kleiner als der zivile, da auf „Exoten“ weitgehend verzichtet wurde.
Wenn also nicht Militär, wozu dann dieses Kreuz? Ganz klar ist es nicht wie es zu dieser Form kam, aber es war tatsächlich eine übliche Deckelgestaltung im Bereich der Habsburger Monarchie (in etwa das heutige Österreich, Ungarn, Slowakei, Tschechien). Volker Babucke (Dresden) hat uns freundlicherweise einige Aufnahmen aus seiner Sammlung zur Verfügung gestellt, die dies dokumentieren.
Eine andere Theorie zur Stopfenform besagt, dass eine um den Hals des Glases geschlungene Schnur leichter an den Aussparungen des Kreuzes verknotet werden konnte. Tatsächlich gibt es diesen so genannten „Apothekerknoten“, mit dem der Stopfen befestigt wurde, so dass er beim Transport eines Ausgabegefäßes nicht herausfallen konnte. Da wir hier allerdings Standgefäße vor uns haben, die allenfalls ein paar Meter vom Regal zum Rezepturtisch und wieder zurück getragen wurden, kann diese Deutung nicht überzeugen. Erst recht nicht bei unseren oben abgebildeten Holzdosen, denn deren Stülpdeckel hält von alleine bombenfest, und außerdem hätte man keinen Hals zur Befestigung des Rezepturfadens.
Diese böhmischen Weißglasflaschen überzeugen durch das Frontetikett in Form eines Wappenschildes, was in der Regel in die Zeit vor der Industrialisierung weist. Hier ist die Form aber bereits spielerisch aufgelöst, so dass man auch an den Jugendstil (ca. 1900-1920) denken könnte. Für die Separanda (links) ist die Beschriftung vorschriftsmäßig Rot auf Weiß, für unter Verschluss sehr vorsichtig zu lagernde Gifte (rechts) Weiß auf Schwarz.
Hingegen stammen die von Volker Babucke trefflich als „sozialistische Sparvariante“ bezeichneten Exemplare aus Tschechien sicherlich aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Man war wohl der Meinung, den Kreuzstopfen noch zu brauchen, wollte ihn aber günstiger produzieren.
Betrachtet man die hier gezeigten Beispiele, so fällt auf, dass es sich bei allen um Gefahrstoffe (d. h. Separanda oder Gifte) handelt. Auch die Exemplare im Pharmaziemuseum Brixen und im Museum Sybodo können nicht zu den Indifferentia (ungefährlichen Wirkstoffen) gezählt werden. Möglicherweise sollte die Kreuzform also schlichtweg eine haptische Warnung beim Griff ins Regal bewirken.
Bleibt zu klären, wieso bei all diesen Flaschen – selbst bei der Sparvariante – die Deckel detailliert beschriftet wurden, denn dies war außerhalb des Kreuzstopfenuniversums absolut unüblich. Eine Möglichkeit wäre, dass es tatsächlich mit einem Blickwinkel von oben zu tun hat, etwa wenn der Apotheker am Rezepturtisch seine Arbeit stehend verrichtete. Andererseits wäre gerade bei Gefahrstoffen eine solche Effizienzoptimierung von zweifelhaftem Wert. Der Apotheker sollte hier ja nicht besonders schnell, sondern besonders sorgfältig agieren.
Da die Deckelbeschriftung nur bei hochwirksamen und gefährlichen Substanzen vorgenommen wurde, ging es vielleicht eher darum, dass bei mehreren offenen Flaschen in der Rezeptur die Stopfen beim Wiederverschließen nicht verwechselt werden sollten. Denn an ihnen könnten ja noch Spuren der Substanz haften, so dass eine Kontamination denkbar wäre. Ob dies allerdings auch bei den von uns nun erworbenen Holzdosen geschehen könnte, das sei dahingestellt. Denn bei einer eher grobgranularen Aufbewahrung von größeren Mengen an Pflanzenbestandteilen haben wir eine andere Situation wie beispielsweise bei einem kleinen Fläschchen mit einem genau abgemessenen 1:49 Gemisch von Morphinhydrochlorid und destilliertem Wasser.
Ähnlich wie bei den rätselhaften Wappenscheiben in mittelalterlichen Apotheken gibt es also eine Vielzahl von mehr oder weniger überzeugenden Theorien, aber wirklich klar ist nur eines: irgendetwas muss dahinterstecken, denn Zufälle gibt es in Apotheken eigentlich nicht.