Weihnachtlicher Kräuterabend
Am 9. Dezember um 17 Uhr ist es soweit – zum ersten Mal in der Geschichte des Apothekariums Neubiberg haben wir zu einem Event eingeladen. 15 Gäste haben sich hierzu in der Offizin der ehemaligen Hubertus-Apotheke Valentin Mayring eingefunden; einigen von ihnen ist diese noch von früher wohlbekannt. Einen weihnachtlichen Kräuterabend mit Räucherung und Verkostung von Energieplätzchen hat es in diesen Räumlichkeiten aber noch nie gegeben.
Nach einer kurzen Einleitung über die Geschichte der Apotheke und seinen Bestand an historischem Inventar schlüpfen wir in die Rolle des Apothekers von anno dazumal: Als es noch keine industriell produzierten Medikamente gab, musste dieser alle Arzneien aus den klassisch definierten und von Gotthold Ephraim Lessing in einem Gedicht beschriebenen Drei Reichen der Natur selbst herstellen: Dem Reich der Tiere (Animalia), der Pflanzen (Vegetabilia) und der Steine (Mineralia). Wir sehen diese Reiche auf unserem italienischen Albarello (18. Jh.) gemalt in Form einer auf einem Felsen wachsenden Palme, an der sich eine Schlange emporwindet – das traditionelle Apotheken-Symbol.
Wir konzentrieren uns heute auf das Reich der Pflanzen – und hierzu übergebe ich an meine Kooperationspartnerin, die Kräuterexpertin und Naturpädagogin, PTA und Gesundheitsberaterin Sieglinde Schuster-Hiebl. In dem anschaulichen Buch Pflanzenkraft und Kräuterwunder, das Bettina Louise Haase 2015 herausgab – leider 2018 viel zu jung verstorben –, wird Sieglinde unter 12 monatlich portraitierten Kräuterfrauen im Kapitel 12 (Dezember) u. a. als Expertin für die gerade zur Weihnachtszeit beliebte Mistel vorgestellt.
Wir haben heute in einer dazu passenden 1920er Jahre-Pappdose Viscum album die Weißbeerige Mistel mitgebracht.
Auf vielen Weihnachtsmärkten und in Blumenläden gibt es das Sandelholzgewächs zur Adventszeit zu kaufen; eigentlich sind wir aber aufgefordert, in der Natur in Baumkronen nach dem immergrünen Halbschmarotzer zu suchen. Sieglinde weist auf die Bedeutung der Pflanze in den Rauhnächten (von Weihnachten bis zum Dreikönigstag) hin; „wer in dieser Zeit eine solche Pflanze findet, hat das ganze Jahr Glück, denn die Mistel wird auch als Glückszweig bezeichnet“ (Haase, S. 156). Die Glück verheißende Kraft der Mistel war schon in der Antike bekannt. Den Kelten (Druiden) war die Mistel heilig, weil sie häufig auf der Eiche schmarotzt, ihrem heiligsten Baum schlechthin – so sagt Plinius der Ältere (24-70 n. Chr.). Im Jahr 1900 hat die Zeremonie des Mistel-Einholens durch weiß gewandete keltische Priesterinnen und Priester der französische Historienmaler Henri-Paul Motte (Druide beim Mistelschneiden am 6. Tag des Mondes) verewigt. In Anlehnung an diese die Jahrhunderte übergreifende Tradition symbolisiert auch für Sieglinde die Mistel Glück, Wohlergehen und Schutz.
Die wenigsten, die sich Mistelzweige als Weihnachtsdeko zu Hause aufhängen oder vielleicht zusammen mit Tannengrün und Stechpalme in die Vase stellen, wissen, dass Viscum album auch eine Arzneipflanze ist. In der Volksmedizin wird das Mistelkraut als Saft oder Tropfen gegen Bluthochdruck und in der anthroposophischen Medizin der Mistelextrakt (in Fertigarzneimitteln) als die Schulmedizin unterstützende Zusatztherapie bei Krebsleiden eingesetzt. Es gibt geschnittene Mistel sowohl als geprüften Arzneitee zur Unterstützung der Kreislauffunktion als auch nicht-offizinell als Lebensmittel in Naturkostläden. Sieglinde nimmt gelegentlich die Teedroge auch als Kaltauszug (1 Teelöffel auf 1 Tasse Wasser mindestens 4-5 Stunden ziehen lassen, dann abseihen und angewärmt trinken). Alle Pflanzenteile sind schwach giftig, so dass von einem unverarbeiteten Genuss der Mistel sowie von Überdosierung dringend abgeraten werden muss.
Was kann man noch mit der Mistel machen? Heute wollen wir sie – in einer Mischung zusammen mit anderen wirksamen und duftenden Kräutern – in einer Schale mit Räucherkohle ansetzen. Sieglinde erläutert eindrucksvoll die verschiedenen Einsatzgebiete des Räucherns zur Erlangung eines gesunden Gleichgewichts zwischen Körper, Seele und Geist. Räuchern kann man zur Kraft- und Energiegewinnung, zur Stimmungsaufhellung und zum Leben im Hier-und-Jetzt, um zu Gelassenheit und Ruhe zu finden. Es braucht Expertise und Erfahrung, um für alle Zwecke eine passende Mischung zusammenzustellen – morgens eine anregende und konzentrationsfördernde, abends eine beruhigende Mischung für einen guten Schlaf.
Im Handel geistert manches Räucherwerk von minderer Qualität, das der Laie nicht von einwandfreien Produkten zu unterscheiden vermag; Sieglinde vermittelt demgegenüber Mut zum Selbst-Sammeln im eigenen Garten – denn da weiß man, was man hat. Sie gibt Tipps zur Ernte und zum Trocknen von oberirdischen Pflanzenteilen und Wurzeln, zum Sammeln von Baumharzen (bitte nicht an fremden Bäumen) und zur Zusammenstellung der Mischungen. Mag es auch simple Faustregeln geben – 1/3 Harze, 1/3 Hölzer und Wurzeln / 1/3 Kräuter – so ist unterliegt doch der persönliche Geschmack vielen Faktoren, die sich nur nach der Trial and Error-Methode mit Geduld herausfinden lassen. Vorsicht bei Giftpflanzen! – man nehme nur, was man 100 % kennt. Sieglinde kennt viele geeignete Kombinationen, antwortet spontan auf Fragen aus der Runde und weiß die Neugier und Begeisterung der Anwesenden zu wecken. Zur Unterstützung der Phantasie reichen wir historische Standgefäße in die Runde, in denen der Apotheker einst Räucherware aufbewahrte – so eine Holzdose des 19. Jahrhunderts mit groben Bröckchen Olibanum (Weihrauch).
Nun aber geht’s an die Praxis: Räucherkohle kommt in die Schale, bis sie ordentlich vorgeglüht ist und sich eine weiße Ascheschicht gebildet hat. Dann ist der Moment gekommen – Sieglinde passt den richtigen Augenblick ab (zu heiß darf die Kohle auch nicht werden) und schüttet die vorbereitete pulvrige Mischung aus Rose, Kamille, Engelwurz, Eisenkraut, Hollerblüten, Lindenblüten, Styrax und Weihrauch in die Glut. Nun müssen wir rasch die Schale in die Teeküche nebenan verbringen und die Räucherung dort bei offenem Fenster überwachen, damit der Rauchmelder in der Offizin nicht anspringt. Auch das ist rechtzeitig geschafft, und nun können die Teilnehmer flexibel und gruppenweise abwechselnd entweder in der Teeküche beim Räuchern zuschauen und / oder in der Offizin verbleiben, wo wir gern noch Fragen zur historischen Apotheke bzw. zu einzelnen Exponaten beantworten.
Langsam zieht der Duft aus der Teeküche in die Offizin – die Energiegewinnung wird spürbar, und zu guter Letzt unterstützen wir diese mit Sieglindes selbst fabrizierten Energieplätzchen auf der Grundlage einer Rezeptur von Hildegard von Bingen. In einer Zinnschale serviert, munden die Plätzchen allen gut. Als Tüpfelchen aufs i setzt eine kräuterkundige Teilnehmerin noch einen Klacks Waldhonig und selbstgetrocknete Stevia (Süßkraut) drauf.
Nun geht’s gestärkt auf einen ungemütlichen Heimweg hinaus bei Dunkelheit, Kälte und Schneeglätte … wir danken allen für die Aufmerksamkeit und freuen uns auf ein Wiedersehen zu einem künftigen Event – gerne wieder mit Sieglinde – in unserem Apothekarium!