Frühlingskräuterführung

Der Frühling tut sich heuer schwer, und die Natur ist vorsichtig und zögerlich – das ist gewöhnungsbedürftig in der Wahlheimat Bayern, wenn man vom milden Rhein kommt. Aber Geduld zahlt sich aus …. auch hier ist es in Kürze soweit, und der Garten des Apothekariums Neubiberg erwacht zum Leben.

Eine unverdrossene 10-er-Gruppe, die sich von den sintflutartigen Regenfällen und Hagelschlägen des vergangenen Freitags nicht abschrecken ließ, hat sich am Samstagmorgen (6. Mai) am Apothekarium versammelt. Wieder mal möchte uns Sieglinde Schuster-Hiebl – PTA, Gesundheitsberaterin und Naturpädagogin – Spannendes zeigen, und dazu öffnen wir die Pforten zu unserem Garten, in dem wir in den nächsten Jahren eine kleine Kräuter- und Arzneipflanzendokumentation planen. Im Kern haben wir diese auf zwei Beeten im vorderen Bereich und einem mit Backsteinen umfassten Hochbeet auf der Terrasse bereits angelegt.

Hochbeet

Hier wachsen Klassiker wie Salbei, Pfefferminze, Melisse, Zitronenverbene, Fenchel, Wermut, Beifuß und eine Wildrose (Büschelrose) … aber auch die weniger gängige Engelwurz, deren Wurzel man gegen Verdauungsbeschwerden einsetzen kann – Sieglinde reicht ein Fläschchen Fluidextrakt mit der Bezeichnung ANGELICA herum (nicht nur ein weiblicher Vorname, sondern auch der botanische Name der Pflanze). Noch sind die Pflanzen im Hochbeet klein und unscheinbar, nichts blüht zu dieser frühen Saison.

Schaut man auf die naturbelassene Wiese, sieht das anders aus! Ein buntes Meer von Gelb und Blau erfreut das Auge, und Sieglinde pickt gezielt etwas heraus: Blau blüht der Gundermann, den kaum jemand kennt – dabei sei meinerseits wärmstens die Devise Pflanzenlust und Gundermann empfohlen – sie lässt unser Wissen aufblühen, wenn man die Natur liebt und von ihr etwas lernen möchte. Gundelrebenkraut wird in der Volksmedizin bei leichten Erkältungen und Husten als Tee oder Tinktur angewendet. Blau blüht auch das Wohlriechende Veilchen – seine ätherischen Öle werden naturheilkundlich zur Schleimlösung bei Atemwegserkrankungen eingesetzt. Gelb blüht die Echte Schlüsselblume – von dieser Pflanze sind sowohl die Wurzel als auch die Blüten traditionell anerkannte Arzneidrogen gegen Husten, aber auch volksmedizinisch insgesamt entkrampfend. Wir pflücken diese Pflanze nicht – denn sie steht unter Naturschutz (im Garten wäre das Pflücken zwar erlaubt, aber wir unterlassen es …. sind wir doch froh, so viele schöne blühende Exemplare dieser Pflanze bei uns zu haben, an denen sich das Auge erfreut).

Löwenzahn

Das Gelb unserer Naturwiese ist aber zu 90 % dem Löwenzahn geschuldet …… Edel-Gärtner mähen diesen als „Unkraut“ ab, bei uns darf er wachsen! Denn zum Löwenzahn hat jeder aus der Gruppe etwas beizutragen! Nicht nur sind Löwenzahnwurzel und Kraut (oder beides als radix taraxaci cum herba gemischt) eine offizinelle Arzneidroge als Tee, Trockenextrakt (Dragees), Fluidextrakt/Tinktur und Frischpflanzenpresssaft gegen Leber-, Galle- und Magenbeschwerden, Appetitlosigkeit sowie harntreibend zur Entwässerung – auch überschlagen sich phantasievolle Ideen, wie die Pflanze, an der alle Teile verwendbar sind, in der Küche genutzt werden kann: Die Knospen als Kapernersatz, die Stängel als „Spaghetti“, die Blüten für Wein, Likör, Sirup, Butter, die Blätter im Salat, die Wurzel für Magenbitter und als Kaffeeersatz – ganze Bücher sind darüber geschrieben worden, und doch wird man nie fertig mit dieser Pflanze. Versierte Köch*innen schaffen Rezepturen mit Gourmet-Qualität.

Bärlauch

Eine Teilnehmerin hat ovale grüne Blätter mitgebracht – ist das Bärlauch? Der wächst auch im Garten vorne am Teich. Oh ja – er ist’s! Das einfachste Erkennungsmerkmal ist sein charakteristischer Knoblauchgeruch. Damit können wir uns aber nicht zufrieden geben. Denn ein ganzer Bärlauchwald würde trügerisch undifferenziert nach Knoblauch duften …. und doch könnten sich einige hochgiftige Maiglöckchenblätter in dem Teppich verstecken. Bei mir wachsen Maiglöckchen hinter dem Teich, und ich kann so den Unterschied gut erklären: Das Bärlauchblatt hat eine Mittelrippe – beim Zerbrechen knackt sie – eine solche fehlt am Maiglöckchenblatt. Und das Bärlauchblatt wächst einzeln am Stängel aus der Erde – beim Maiglöckchen aber sind es zwei Blätter am Stängel. Auch giftige Herbstzeitlosenblätter ähneln dem Bärlauch – diese aber wachsen ohne Stiele aus einer Rossette heraus – und zwar selten im Wald, eher auf feuchten Wiesen. Stirnrunzeln. War das zu schwierig? Sieglinde vereinfacht für Anfänger*innen praxisorientiert: Während zurzeit der Bärlauch häufig schon blüht, ein Stadium, in dem man ihn für die Küche besser nicht mehr verwenden sollte, sind junge Maiglöckchenblätter – zumindest hier in Bayern – gerade erst mal draußen.

Die Köpfe rauchen – um Gottes willen, wie soll man sich die ganzen heilkundlichen Indikationen merken? Für Anfänger*innen versteht Sieglinde es wiederum, eine vereinfachte volksmedizinische Faustformel auszugeben: „Gelb blühend gut für Verdauung und Leber / blau blühend für die Lunge“ (das kann man sich noch einfacher an den Leitpflanzen Löwenzahn versus Lungenkraut merken, das bei mir allerdings nicht wächst). Fortgeschrittene in der Gruppe wissen natürlich, dass die Faustformel differenzierter gesehen werden muss und es zudem auch viele Überschneidungen gibt – aber zu weit wollen wir es heute nicht ins Detail treiben.

Genug ist’s in unserem Garten – viel mehr gibt er um diese Jahreszeit noch nicht her. Wir wollen nun einen kurzen Walk zu Sieglindes Garten in der Promenadestraße unternehmen, und zwar rd. 1 km entlang des Bahndamms der S-Bahn-Linie 7 zwischen München – Neubiberg – Aying – Kreuzstraße. Südlich dieses Bahndamms erstreckt sich der Neubiberger Bahnhofswald, und an diesem Waldsaum wollen wir Knospen suchen.

Vorher gibt’s aber noch eine kurze Einführung von Sieglinde in die Knospenheilkunde (so genannte Gemmotherapie). Diese Methode wurde vor rd. 60 Jahren von dem belgischen Arzt Dr. Pol Henry begründet. Er entwickelte ein neues Mazerationsverfahren mit einem Alkohol-Glyzerol-Wasser-Gemisch, dem an Proteinen, Vitamin C , Flavonoiden und vielerlei Wachstumshormonen reichen Embryonalgewebe von Knospen, Triebspitzen und Schösslingen deutlich mehr an Inhaltsstoffen zu extrahieren als es mit herkömmlichen Tinkturen möglich wäre. Durch diese hoch konzentrierten und nur im jungen Wachstumsgewebe so vorhandenen Inhaltsstoffe soll – je nach Pflanze unterschiedlich – der Stoffwechsel optimal reguliert, die Selbstheilungskräfte des Körpers aktiviert und dadurch verschiedenen Beschwerden (Magen/Darm, Herz/Kreislauf, Lunge, Bewegungsapparat u.a.) Einhalt geboten werden.

Pappelknospen-Ansatz
Sieglindes Pappelknospenöl

Die Theorie klingt gut verständlich und nachvollziehbar – auch wenn die Schulmedizin mangels einschlägiger wissenschaftlicher Studien den Beweis der Wirksamkeit bisher schuldig geblieben ist. Anders als in Deutschland, wo die Gemmotherapie noch wenig bekannt ist, sind in Frankreich und in der Schweiz Knospen-Arzneien schon seit 1956 offizinell – ins Homöopathische Arzneibuch fanden sie 2011 Eingang. Sieglinde hat spannende Anschauungsprodukte mitgebracht – selbst eingelegte Pappelknospen in Öl und ein Spray von jungen Haselnussknospen, das man direkt in den Mund sprühen kann (Gemmotherapeuten empfehlen es entzündungshemmend bei Atemwegserkrankungen).

Selbst hier in Bayern ist die Jahreszeit schon ein wenig zu weit fortgeschritten für das Knospen-Sammeln. Denn sobald die Blätter draußen sind, sind die Nährstoffe im Embryonalgewebe der Knospe verbraucht; die grüne Pflanze, die jetzt Photosynthese betreiben kann, ist nicht mehr darauf angewiesen. Überall entlang des Bahndamms sind die jungen Blätter schon da – von Ahorn, Rotbuche, Hainbuche. Nur die Esche hat es noch nicht geschafft. Ihre schwarzen Knospen an den noch kahlen Bäumen sind sehr leicht zu erkennen. Eschenknospen-Mundsprays werden in der Gemmotherapie zur Reduktion von Schmerzzuständen des Bewegungsapparats eingesetzt – d.h. bei rheumatischen Gelenkbeschwerden, Bänder- und Sehnenentzündungen.

Nach einer Viertelstunde sind wir in Sieglindes Naturgarten auf der Promenadestraße angekommen – und nun heißt es für die Gruppe: Wiederholen und Wiedererkennen! Wo ist der Bärlauch – und wo die Maiglöckchen? Das klappt auf Anhieb fehlerfrei! Auch der Gundermann wird gefunden, so sehr er sich auch in der Wiese versteckt hat, und das Lungenkraut (das nur bei Sieglinde wächst und die Teilnehmer*innen nur vom Foto kennen) wird auch erkannt.

Auf Sieglindes großem Präsentationstisch im Hauseingang liegt jede Menge Anschauungsmaterial – selbst fabrizierte Produkte, Bücher über Kräuter, Löwenzahn, Knospen, Gemmotherapie, Flyer über künftige Veranstaltungen, Kräuterführungen, auch Pilger-Wanderungen – Naturerfahrung verbunden mit Stille und Gebet – sind im Angebot. Jede*r darf ein wenig schmökern und sinnieren, welche Wunder die Natur uns bietet …. und bald schon werden wir uns vielleicht wiedersehen und neue Interessenten gewinnen! Denn am 30. Juni variieren wir die Veranstaltung mit Sommerkräutern noch einmal.

Ein Kommentar

  1. Update: Auch im laufenden Jahr 2024 haben wir – diesmal am 20. April – wieder eine Frühlingskräuterführung ausgerichtet. Die Wetterbedingungen waren nahezu winterlich: Sturm, Schneeschauer und einstellige Temperaturen zwangen uns, Teile der Veranstaltung in die Offizin zu verlegen. Da es im Vorfeld in Bayern jedoch schon beinahe sommerlich warm mit Temperaturen bis zu 27°C gewesen ist, ist die Natur viel weiter, auch wenn wir 2 1/2 Wochen früher dran sind als letztes Jahr: Bärlauch und Waldmeister blühen schon, die meisten Löwenzähne sind schon Pusteblumen, der Gundermann ist schon draußen, die Schlüsselblume hat sich schon verabschiedet. Die Engelwurz im Hochbeet steht im zweiten Jahr kurz vor dem Austrieb ihrer mächtigen Dolde. Die Einführung in die Gemmotherapie hat keinen Sinn mehr, an den Sträuchern entlang des Bahndamms zu dokumentieren, denn überall – selbst bei der Esche – sind die Blätter schon weit draußen. In der Offizin können wir lediglich an der späten Weinrebe noch einen Ansatz nach der Rezeptur von Pol Henry (1:45 mit he 1/3 abgekochtem Wasser, 95 %igem Alkohol und 85 %igem Glyzerin) vorführen. Alle Teilnehmer*innen haben trotz der widrigen Bedingungen tapfer durchgehalten – ein Dankeschön hierfür! Für eine private Gruppe haben wir die Veranstaltung am Nachmittag noch einmal wiederholt. Hier hat die Sonne uns erfreulicherweise ein kurzes Gastspiel gegeben, so dass wir etwas länger in den Garten hinaus konnten.

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