Unter dem Bayer-Kreuz …
Eine Besucherin unseres Museums brachte uns kürzlich eine Reiseapotheke, die sich schon lange in ihrer Familie befand, aber wohl nie richtig benutzt wurde. Sie vermutete, dass sie aus den 1950er Jahren stammt, wohingegen unser erster Eindruck war, dass sie etwas älter sein könnte.
Es handelt sich um ein mit Kunstleder bezogenes Mäppchen, das zusammengelegt und mit einem roten Plastikreißverschluss verschlossen werden kann. Innen ist es rot verkleidet und hat zahlreiche Schlaufen aus schwarzem Leder für Arzneimittel, sowohl in Röhrchen- als auch in Kästchenform. Drei Röhrchen fehlen (Eldoform, Gardan, Novalgin-Chinin), sonst ist die Bestückung vollständig. Zwei Scheren, eine Zange und Sicherheitsnadeln sind ebenfalls vorhanden. Eine angenähte Tasche in der Mitte enthält einen fertigen Wundverband sowie eine Gebrauchsanweisung, in der alle enthaltenen Medikamente in sieben Sprachen beschrieben sind.
Jedes Medikament ist – neben dem Bayer-Logo – beschriftet mit der Herstellerangabe „I.G. Farbenindustrie Aktiengesellschaft Leverkusen a. Rh.“, was zunächst eine Grobdatierung zwischen 1925 und 1952 erlaubt. Die IG Farben wurde 1925 gegründet als Verschmelzung von acht deutschen Unternehmen, darunter Chemie-Riesen wie BASF, Hoechst – und eben auch Bayer. Infolge dieser Fusion deckte die Marke „Bayer“ fortan die pharmazeutischen Produkte der neu geschaffenen Mega-Corporation ab.
So lautet der von der IG-Farben-Werbeabteilung kreierte Slogan auf der Außenseite des Mäppchens und auf der Gebrauchsanweisung, der aus heutiger Sicht eher befremdlich wirkt. Denn der Unternehmensverbund entwickelte sich im Nationalsozialismus zu einem regimetreuen Rüstungskonzern, der für den Tod zehntausender Zwangsarbeiter verantwortlich war und ein eigenes KZ bei Auschwitz betrieb.
Ob unsere Reiseapotheke aus dieser dunklen Zeit stammt, ist jedoch nicht klar. Die enthaltenen Arzneimittel gab es spätestens zu Beginn der 1920er Jahre, manche sogar schon deutlich länger. So zum Beispiel Adalin seit 1909, und das bekannte Aspirin sogar schon seit 1899, so dass die Befüllung aus dieser Sicht durchaus noch in der Weimarer Republik stattgefunden haben könnte.
Das kreuzförmige Bayer-Logo wurde 1904 in die kaiserliche Patentrolle eingetragen als Ersatz für das ursprüngliche Löwen-Emblem des 1863 von dem Farbenhändler Friedrich Bayer zusammen mit dem Chemiker Johann Friedrich Wescott gegründeten Unternehmens. Ursprünglich wurde das Logo in Kursivschrift ausgeführt, 1929 erstmalig modernisiert und die Buchstaben des Schriftzugs gerade gestellt. Aber auch 1929 ist nicht der richtige Terminus Post Quem (frühestmögliche Datierung). Denn nach Informationen des Bayer Unternehmensarchivs startete die Werbekampagne mit dem oben genannten Vertrauensslogan erst 1935.
Andererseits könnte das Objekt theoretisch auch noch aus den ersten Nachkriegsjahren (1945-1952) stammen, d. h. vor der Entflechtung der I.G. Farbenindustrie AG durch die Alliierte Hohe Kommission 1952. Denn direkt nach Kriegsende musste, obwohl die unternehmerischen Verhältnisse noch ungeordnet und die Herstellungsbedingungen chaotisch waren, die Produktion rasch wieder anlaufen, da ein enormer Bedarf an Medikamenten in der vom Krieg gebeutelten Bevölkerung bestand. Dennoch erscheint es schwer vorstellbar, dass es in dieser Zeit einen relevanten Bedarf an überbordend befüllten und ansehnlich aufgemachten Reiseapotheken gab. Die enthaltenen Medikamente durften auch nicht einzeln verkauft werden, sondern wurden ausschließlich für die Verwendung in diesem Täschchen produziert – dies geht aus den Beschriftungen einiger der Verpackungen hervor. Und schließlich stammen einige Medikamente (Festal, Arantil, Gardan) eigentlich von Hoechst und wurden nach dem Krieg wahrscheinlich nicht mehr mit Bayer-Logo verkauft.
Ab 1952 firmierte Bayer dann wieder eigenständig als Bayer AG, wohingegen sich die Abwicklung der nicht mehr aktiv produzierenden I.G. Farbenindustrie AG i. L. (in Liquidation) noch bis 2012 hinzog. Somit ist der Terminus Ante Quem (spätest mögliche Datierung) auf 1952 zu legen.
Am Wahrscheinlichsten ist jedoch die zweite Hälfte der 1930er Jahre, denn im Vorlauf zum zweiten Weltkrieg wurde die Industrieproduktion vermehrt auf kriegswichtige Güter umgestellt, und dazu gehörten derartige Luxusartikel sicher nicht. Ein weiteres Indiz mag die Mehrsprachigkeit der Gebrauchsanweisung sein, die intakte Wirtschaftsbeziehungen ins europäische Ausland nahelegt. Auf den Verpackungen selbst ist keine Datierung erkennbar – der Aufdruck eines Verfallsdatums wurde erst mit dem Deutschen Arzneimittelgesetz von 1961 zur Pflicht.
Wir freuen uns über dieses Exponat, das zugleich ein Zeitdokument ist, und danken an dieser Stelle nochmals den Spendern aus Starnberg, sowie dem Bayer Unternehmensarchiv für die Hilfe bei unserer Recherche.