Pflanzenlust und Gundermann II: Volksheilkunde
Vor knapp einem Jahr habe ich die Prüfung zur Kräuterpädagogin in der Gundermannschule abgelegt. Dazu gibt es jetzt noch das Tüpfelchen aufs i – seit dem 27. April habe ich ein Upgrade auf „Kräuterpädagogin Volksheilkunde”.
Was ist denn bitte Volksheilkunde? Es klingt ganz einfach, wie der Name sagt – das Wissen um Vorbeugen und Heilen von Krankheiten und Befindlichkeitsstörungen „im Volk“, also unter Laien, die weder Ärzte noch Apotheker waren. Doch das Ganze ist schwammig, und zum richtigen Hintergrund-Verständnis muss ich etwas weiter in die Vergangenheit ausholen:
Bevor es im Laufe des 19. Jahrhunderts die Pharmazie als Wissenschaft gab, die Kenntnisse moderner Chemie voraussetzte, haben selbst die Experten – sprich Ärzte und Apotheker – von chemischen Wirkstoffen und ihren therapeutischen Effekten nichts wissen können. Ebenso wenig wusste man von Zellstrukturen im menschlichen Körper, von Bakterien und Viren. Die Heilkundigen hielten sich an die seit der griechischen Antike (Schule des Hippokrates von Kos) überlieferten Vier-Säfte-Lehre; bei einer Krankheit war nach dieser Vorstellung das Verhältnis von Blut, Schleim, gelber und schwarzer Galle aus dem Gleichgewicht. Erst mit Rudolf Virchow verschwand diese Fehlvorstellung endgültig. Um das Chaos der Säfte wieder in Ordnung zu bringen, wurde aus allen drei Reichen der Natur Medizin gemacht: Aus dem Reich der Tiere, zu dem auch der Mensch gehört, dem Reich der Pflanzen und dem Reich der Steine und Mineralien. Manche Substanz, die sich in Dosen und Gläsern historischer Apotheken fand, mutet heute skurril an (spanische Fliegen, getrocknete Kröten, pulverisierte Koralle, Luchsstein, Drachenblut), und auch heute undenkbare Gift-Drogen und -Zubereitungen waren im Einsatz (Herbstzeitlosenwein, Fingerhuttinktur, Christrosenwurzel). Das gesammelte Wissen um die Pflanzen im abendländischen Raum, niedergelegt im ersten nachchristlichen Jahrhundert bei den Griechen (Dioskurides, De materia medica) und Römern (Plinius der Ältere mit seiner Naturalis historia), wurde wiederentdeckt in den „Kräuterbüchern“ des Spätmittelalters und der frühen Neuzeit (Gart der Gesundheit und die Mainzer Kräuterbücher, Hieronymus Brunschwigs Kleines Destillierbuch, die umfassenden „Neuen Kräuterbücher“ der Väter der Botanik und viele andere mehr).
Wer jedoch des Lesens und Schreibens unkundig war – und das war im „gemeinen Volk“ die Regel – konnte den damaligen Stand der Medizin und Pflanzenkunde nicht wissen und hatte schon gar nicht das Geld, wegen jedem kleinen Wehwehchen zum Arzt oder Apotheker zu gehen. Hilfe zur Selbsthilfe war hier die Devise – damit die Nase nicht lief, der Hals nicht kratzte, keine Laus über die Leber lief, nichts auf den Magen schlug, das Herz nicht bis zum Hals klopfte und das Blut nicht in den Adern stockte, die Beine nicht lahm wurden und die Hexe nicht ins Kreuz schoss. Hier wussten die weisen Kräuterweiblein Rat, die sich schon immer nach der Methode „Versuch und Irrtum“ richten mussten, und gaben ihren wertvollen Erfahrungsschatz von Generation zu Generation weiter – Volksmedizin!
Es war im 12. Jahrhundert die berühmte Universalgelehrte Hildegard von Bingen auf dem Rupertsberg, die ihr gelehrtes Wissen mit dem verband, was sie aus dem Volke hörte. In 9 Büchern der Physica und 6 Büchern der Causae et curae hat sie das medizinische Wissen ihrer Zeit mit den Überlieferungen der Laien-Methoden umfassend zusammengebracht und uns eine neue Volksmedizin überliefert, die als Klostermedizin ihre eigenen Wege ging und uns heute noch fasziniert.
Und irgendwo, nicht eindeutig definiert, durchdrangen sich im Laufe der Zeit alle Ebenen gegenseitig, die Empfehlungen der berühmten Ärzte der Antike, die Tipps und Rezepturen aus der mittelalterlichen Klostermedizin, die vielen Zubereitungen aus den Drei Reichen der Natur – und dazu immer wieder Gebete, Sprüche und Rituale, Aberglaube und Zauberei. Denn der Glaube versetzt Berge – der nicht zu unterschätzende Placebo-Effekt hat manches Wehwehchen sicher kuriert.
Erst als im 19. Jahrhundert die moderne Wissenschaft auf den Plan trat, musste mit manchen quacksalbrigen Heilsversprechen aufgeräumt werden. Der Dualismus war mit dem Auftreten der „Schulmedizin“ freilich nicht beendet, da sich neue alternative Theorien und daraus entwickelte Heilmethoden in der Folge dagegen stemmten – wir nennen diese heute „Komplementärmedizin“: Dazu gehören beispielsweise Homöopathie, die anthroposophische Medizin des Rudolf Steiner, die Bachblütentherapie, die Schüssler-Salze, aber auch die Neu-Interpretationen historischer außereuropäischer Medizin-Lehren wie Traditionelle Chinesische Medizin, Yin und Yang, Ayurveda aus Indien und vieles andere mehr – ganze Bücher füllen, was ich hier versuchen muss, auf wenige Sätze zu komprimieren. Allen alternativ- und komplementärmedizinischen Theorien und Methoden ist gemeinsam, dass ihre Wirksamkeit bisher nicht mit dem Goldstandard der Schulmedizin, d. h. randomisierten Studien, nachgewiesen werden konnte.
Die Pharmazie hat sich an den Goldstandard gehalten: Mit dem ersten Deutschen Arzneibuch 1872 sind erstmals die zuvor je nach Territorium des Ersten Kaiserreiches (bis 1806) unterschiedlich geregelten Rezepturen und Qualitäten von Arzneien im Zweiten Deutschen Kaiserreich einheitlich festgeschrieben. Anfangs standen dort noch viele Pflanzen und pflanzliche Zubereitungen, die noch nicht auf ihre genauen Inhaltsstoffe hin und deren Wirksamkeit überprüft waren. Erst als dies durch experimentelle Vergleichsstudien (Wirkstoff-Gruppe versus Placebo-Gruppe) gelang, durften sie im Arzneibuch verbleiben (seit 1991 gilt das Europäische Arzneibuch und parallel das Homöopathische Arzneibuch; die nationalen Arzneibücher nur insoweit, als sie vom europäischen Standard in Einzelfällen abweichen). So unterscheidet sich moderne Phytotherapie vom pflanzlichen Zweig der Volksmedizin. Drei Kommissionen – Kommission E, ESCOP und HMPC – nahmen seit 1978 rd. 500 Pflanzen gnadenlos unter dem Gesichtspunkt von Nutzen und Schaden unter die Lupe und erstellten dazu Positiv- oder Negativmonographien, die regelmäßig aktualisiert werden. Denn manche Pflanzen enthalten ja auch unerwünschte Inhaltsstoffe, von denen man zuvor nichts wusste, und können zu Nebenwirkungen und gesundheitlichen Schaden führen. Pflanzen, die nach einer solchen Kosten/Nutzen-Relationsprüfung keine Anerkennung als zumindest traditionelles Arzneimittel nach § 39a des seit 1978 in Kraft befindlichen Deutschen Arzneimittelgesetzes fanden, flogen aus dem Deutschen (später Europäischen) Arzneibuch heraus. Die Qualität anerkannter Arzneidrogen und medizinischer Produkte (Mindestanteile bzw. Grenzwerte von Inhaltsstoffen etc.) ist in den Arzneibüchern festgeschrieben. Produkte aus vielen dieser negativ bewerteten oder noch nicht untersuchten Pflanzen sind weiterhin im Handel – aber nicht mehr „offizinell“ (d. h. ohne Arznei-Zulassungsnummer), vielmehr Kosmetikum, Nahrungsergänzungsmittel oder einfaches Lebensmittel.
Lassen wir uns von diesem gnadenlosen Rasenschnitt ins Bockshorn jagen? Nein, keineswegs!! Denn die Vorgaben zeitgenössischer Phytotherapie sollen uns Laien nicht dazu verleiten, dem reichen Erfahrungsschatz der Volksmedizin den Rücken zu kehren. Da wir Kräuterpädagogen weder Pharmazeuten noch Ärzte noch Chemiker sind, wollen wir die Volksheilkunde harmonisierend betrachten, modernes Heilkräuterwissen nutzen, uns im „Hausgebrauch“ auf das beschränken, was wir können und kennen: Von traditionellen alten Hausmitteln wie geriebenem Apfel gegen Durchfall oder einem Kamillendampfbad gegen eine laufende Nase haben wir alle schon einmal gehört. Doch in der Ausbildung lernen wir, dass die Natur – insbesondere, was in unserem Garten vor der Haustür wächst – einen viel reicher gedeckten Tisch für uns bereithält. Vieles, was ein Gärtner für ein „Unkraut“ hält – Gänseblümchen, Löwenzahn und Gundermann, Brennnessel und Spitzwegerich – hat ein gerade für den Laien ungeahntes phytotherapeutisches Potenzial. Erste Regel: „Unkräuter“ gibt es nicht. Auch einheimische Bäume, Obst, Gemüse und Kulturpflanzen wollen wir in unsere Betrachtungen mit einbeziehen.
Zuviele Pflanzen und ihre heilkundlichen Zubereitungen möchte ich an dieser Stelle nicht verraten – das alles wird ja in dem halbjährigen Kurs „Volksheilkunde“ erlernt. Gewisse Vorkenntnisse sind Voraussetzung – man sollte biologisch schon etwas von Pflanzenfamilien und ihren typischen Inhaltsstoffen verstehen, die wichtigsten einheimischen Arzneipflanzen und auch gefährliche Giftpflanzen als Tabu bestimmen und erkennen können. Geprüfte Kräuterpädagog*innen nach der Gundermann-Schule sollten diese Vorgaben erfüllen, aber auch Teilnehmer*innen anderer Ausbildungen und Berufe mit passenden Vorkenntnissen sind willkommen.
Im Kurs lernten wir die verschiedensten volksheilkundlichen Anwendungen von Heilkräutern – Tee, Tinkturen, Ölauszüge, Salben, Bäder, Wickel, Auflagen und vieles mehr kennen – und, mindestens so wichtig wie die Theorie! – ganz viel Praxis, eigene Heilmittel zu fabrizieren! Fluidextrakte, Trockenextrakte und andere vormals in der Apotheke, heute hingegen industriell hergestellte Medizin hingegen überlassen wir den Pharmazeuten. Ohne behördliche Genehmigungen sind unsere Heilmittel weder als Lebensmittel / Nahrungsergänzungsmittel noch Kosmetikum und schon gar nicht als Arznei verkäuflich, doch sie sind unser eigenes Markenzeichen zur Selbsthilfe zu Hause, und wir dürfen auch andere unter diesem Vorbehalt zur Praxis anleiten. Im Apothekarium dienen sie als Anschauungsprodukte, die wir in Workshops und auf Kräuterführungen im Garten gemeinsam thematisieren und herstellen.
Ich danke meiner Lehrerin Karin Greiner (Biologin mit Apotheken-Hintergrund) für die geduldige und anschauliche Vermittlung ihres reichen langjährigen Erfahrungsschatzes, ihres umfangreichen biologischen und praktischen Wissens und den Anstoß zum eigenen Experiment und Produkt, zu dem ich sonst niemals den Mut gefunden hätte.
Die Zusatzausbildung endet mit einer kleinen schriftlichen Prüfung. In dieser müssen wir auch die Grenzen der Volksheilkunde und unserer Expertise zeigen können: Vorsicht mit Pflanzen mit problematischen Inhaltsstoffen, die wir als Laie ohne Laborprüfung nicht quantifizieren und kontrollieren können (Huflattich, Beinwell, Efeu ….)! Eine Giftpflanze wie der Fingerhut, aus deren Blättern einst Tinkturen gemacht wurden, ist außerhalb der pharmakologischen Fertigmedizin absolut tabu. Die Grenzen jeglicher Eigenbehandlung liegen bei massiven Beschwerden und keiner Besserung nach wenigen Tagen. Heilpflanzen haben auch Nebenwirkungen, die es zu beachten gilt! Mit dieser Ausbildung haben wir volksheilkundliche Expertise, sind aber keine Gesundheitsberaterinnen. Ist eine konkrete Diagnose oder gar ein therapeutischer Ratschlag mal in einem Arbeitskreis gefragt: „Fragen Sie Ihre Ärztin oder Ihren Arzt oder in Ihrer Apotheke“!