Sommerkräuterführung 2024
Der Sommer hat sich heuer Zeit gelassen. Noch Mitte Juni hat man die Heizung gebraucht – und so manche Interessentin an Sommerkräutern traute den kurzen Gastspielen der Sonne noch nicht und hat sich mit der Anmeldung zurückgehalten oder erkrankte kurzfristig. Am Ende aber haben meine bewährte Kooperationspartnerin Sieglinde Schuster-Hiebl und ich doch noch eine überschaubare Gruppe zum Termin am 22. Juni – pünktlich zur Sommersonnenwende – im Garten des Apothekariums um uns versammelt. Ein paar bekannte Gesichter sind dabei – aber auch neue Teilnehmerinnen heißen wir willkommen!
Morgens um 10 ist es noch recht frisch, doch zum Glück recht sonnig und wettersicher. Unsere Naturwiese steht in voller Blüte. Da sprinte ich mitten hinein und pflücke spontan ein paar Blüten und Blättchen – was ich in der Hand habe, wird rasch erraten: Rotklee, Spitzwegerich und Frauenmantel. Unkräuter? Nein – für uns Kräuterpädagoginnen gibt es solche nicht: Manches was sich in unserer Wiese wild angesiedelt hat, ist essbar und in der Küche verwertbar, hat langjährige Tradition in der Volksheilkunde, ist teilweise sogar offizinelle (d.h. in Arzneibüchern stehende) Medizin, und so manche spannende Geschichte rankt sich darum.
So ist der Rotklee, der sich in großen Teppichen bei uns angesiedelt hat, mehr als eine nahrhafte Futterpflanze für das Weidevieh, die zudem noch zur Bodenverbesserung beiträgt: Wie die meisten Schmetterlingsblütler kann er im tief reichenden Wurzelstock Knöllchen bilden, wo Bakterien den Stickstoff aus der Luft binden und in Aminosäuren und Proteine verwandeln. Traditionell in der Volksheilkunde war Rotklee ein gesundheitliches Multitalent: Eine Abkochung von Rotkleeblüten oder Blättern wurde einst gegen Asthma, Keuchhusten, Verstopfung, Rheuma und Gichterkrankungen, bei Leber- und Gallenstauungen, gegen Appetitlosigkeit, schleimlösend bei Erkältungen und äußerlich gegen die verschiedensten Krankheiten der Haut verwendet. Wenn davon auch manches aus heutiger medizinischer Sicht nicht mehr haltbar ist, erklärt doch der hohe Gehalt des Rotklees an antioxidativ und antimikrobiell wirkenden Flavonoiden, den Blutfluss fördernden Cumarinen, Mineralien und Vitaminen – wovon man früher natürlich nichts wissen konnte – grundsätzlich sein Potenzial. In jüngerer Zeit erfuhr der Rotklee seine besondere Aufmerksamkeit durch seine Mehrfach-Kombination aus Isoflavonen, die auch Phytoöstrogene genannt werden, weil diese Pflanzenstoffe ähnlich wie körpereigene Östrogene an Rezeptoren andocken können. Rotklee-Tee und -Extrakte sind daher bei Frauen in den Wechseljahren, wenn der Hormonhaushalt durcheinander gerät, zur Linderung der typischen Beschwerden (Hitzewallungen, Schweißausbrüche, Stimmungsschwankungen, Schlafstörungen) beliebt. Ins Europäische Arzneibuch hat es der Rotklee trotzdem nicht geschafft – seine Produkte sind, rechtlich gesehen, Nahrungsergänzungsmittel, und die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA) hat den Boom etwas ausgebremst: Erst eine mehrmonatige Anwendung führe zu einer Wirkung, deren Sinnhaftigkeit dann aber mit in manchen Studien dokumentierten Nebenwirkungen (Kopf- und Muskelschmerzen, Magenbeschwerden) in Beziehung gesetzt werden müsse. Am Ende mag es eine gesunde Frau selbst entscheiden, ob Rotklee in moderater Anwendung ihr etwas bringt, oder ob sie ihn nicht einfach nur genussvoll in der Küche verwendet: Ein paar Blüten im Salat, in Smoothie, verarbeitet zu Essig, Gelee, Sirup, Likör, im Brot und Gebäck, in Sorbets und Süßspeisen, in Eiswürfel eingefroren zu Getränken, zu hellem Fleisch, Fisch, Reis, Grieß, Mais- und Kartoffelbeilagen – oder als Kleeblüten-Knäckebrot nach dem Vorbild des in Irland und Schottland verbreiteten Chambrocks. Kreativ sind insoweit die Ideen der Biologin und Wildkräuterexpertin Karin Greiner.
Spitzwegerich ist auch so ein faszinierender Alleskönner. Die Droge des Handels stammt zwar aus Kulturen, deren Qualität im Europäischen Arzneibuch festgeschrieben ist, doch im „Hausgebrauch“ geben wir uns damit zufrieden, was auf der Wiese wächst. Spitzwegerichblätter enthalten Schleimstoffe, Phenylethanoide und Iridoidglykoside (insbesondere Aucubin). Die Schleimstoffe legen sich bei Katarrhen der oberen Luftwege schützend über die Schleimhäute im Mund- und Rachenraum und können somit auch trockenem Reizhusten entgegenwirken. Vorzuziehen sind Frischpflanzenpresssaft, Sirup oder aus der Apotheke Fluidextrakt; ein Tee ist nur zweite Wahl (wenn, dann als Kaltauszug). Denn das Enzym, das das entzündungshemmende Aucubigenin (das Aglykon des Aucubin) für den Körper verwertbar macht, ist hitzeempfindlich und wird beim Kochen zerstört.
Eine skurrile volksheilkundlich tradierte Zubereitung ist ein so genannter „Erdkammersirup“: Dazu werden frisch geschnittene Spitzwegerichblätter abwechselnd mit Honig oder Zucker als rd. 1 cm dicke Schichten in ein Einmachglas gefüllt (mit Zuckerschicht beenden). Das mit Tektur oder nur aufgelegtem Deckel nur lose verschlossene Glas wird für etwa 3 Monate in ein rd. einen halben Meter tiefes Erdloch versenkt und zugeschüttet. Die Stelle muss man sich gut merken bzw. markieren. Danach sollten sich die Schichten zu einem Sirup vermengt haben, und es kann abgefiltert werden. Das Vergraben in einem tiefen Erdloch gewährleistete einst, als es noch keine Kühlschränke hab, auch im Hochsommer eine gleichbleibende Temperatur. Die Teilnehmerinnen staunen – selbst versierte Kräuterkundige haben das noch nie gehört. Ich habe das selbst noch nicht ausprobiert, kann mir jedoch gut vorstellen, dass das auch heute noch funktioniert!
Spitzwegerichtinktur ist volksmedizinisch auch zur äußeren Anwendung indiziert (beispielsweise gegen Insektenstiche).
Den Frauenmantel haben wir im Vorjahr schon besprochen. Erfreulicherweise wächst auf unserer Wiese inzwischen der gerbstoffreiche kleine Spitzlappige (Alchemilla vulgaris), der als Arzneipflanze gegen Durchfall indiziert ist und in der Volksmedizin auch gegen Frauenbeschwerden eingesetzt wurde – im Gegensatz zu der am Teich aus einer älteren Anpflanzung resultierenden Hybride des Weichen (Alchemilla mollis) mit großen runden Blättern und behaarten Stängeln, eine pharmazeutisch wirkungslose Zierpflanze. Sieglinde erklärt noch einmal anschaulich die Guttation und die belebende Verwendung des frischen Tropfens für eine schöne Haut.
Am Teich und auf der Wiese ist das Johanniskraut noch nicht ganz so weit wie im Vorjahr, als wir aber auch mit unserer Sommerkräuterführung eine Woche später dran waren; die wenigen schon blühenden Exemplare reichen dennoch, um die typischen Merkmale und Verwendungsmöglichkeiten (Tee, Tinktur, Rotöl und hochwirksamer, teilweise verschreibungspflichtiger Trockenextrakt) analog 2023 zu dokumentieren. Als Tüpfelchen aufs i flicht uns Sieglinde mit geschickter Hand einen goldgelben Blütenkranz – beruhigend für die Nerven und stimmungsaufhellend für die Seele.
Die blühende Wiese in Weiß, Gelb, Blau und Lila könnte uns noch den ganzen Tag beschäftigen: Echter Ehrenpreis, Wiesen-Labkraut, Kleines Habichtskraut, Echter Dost, Gundermann, Margariten, Kriechender Günsel, Steifhaariger Löwenzahn, Weißklee, Kleiner Klee, Walderdbeere, Fünffingerkraut …. wer genau hinguckt, entdeckt zwischen den Gräsern mehr und mehr. Mich hat der Ehrgeiz gepackt, in den kommenden Jahren die Artenvielfalt und Bienenfreundlichkeit noch steigern zu wollen. Die größte Schwierigkeit dürfte darin bestehen, dass zuvor hier 20 Jahre lang ein Rasen war, der regelmäßig gemäht wurde, wobei der Mulch als Dünger auf den Flächen liegen blieb. Überdimensionale Blätter des Gemeinen Löwenzahns dominieren daher als deutliche Stickstoffindikatoren immer noch auf einigen Fettwiesen-Arealen, auf denen partout nichts anderes wachsen möchte. Unsere Wiese wird jetzt nur noch einmal jährlich (im Herbst) gemäht und das Schnittgut abtransportiert. Also braucht es wohl noch ein wenig Geduld, bis hier eine artenreichere Magerwiese entstanden ist – vielleicht muss man mit etwas Bio-Wildblumensaatgut nachhelfen.
Nun aber wollen wir uns wie im Vorjahr den gezielt angepflanzten Apothekenkräutern – alle offizinell – widmen:
Im Hochbeet, in einer Schale und auf der sonnigen Seite des Ost-Beets wachsen die Mittelmeerkräuter Thymian (und der Quendel als seine heimische „Schwester“), Rosmarin, Lavendel und Salbei. Letztere beide stehen in voller Blüte in Blau-Lila, die beiden ersteren sind schon vorbei. Als Lippenblütler sind ätherische Öle ihre typischen Inhaltsstoffe, die je nach Zusammensetzung unterschiedliche Wirkungen erzeugen. Auch diese haben wir im Vorjahr schon ausführlich besprochen – hier nachzulesen.
Auch unsere Bäume beziehen wir wieder mit ein – neben den beiden großen Winterlinden, die auch im Vorjahr in voller Blüte standen und von uns thematisiert wurden, hat Sieglinde dieses Jahr noch die Walnuss ausgewählt. Offizinell sind zwar nur die Blätter; ihre Qualität ist im Deutschen Arzneimittel-Kodex festgeschrieben, und das HMPC hat Walnussblätter, landläufig wenig bekannt, als traditionelles pflanzliches Arzneimittel im Sinne des § 39a des Arzneimittelgesetzes eingestuft. Basierend auf langjähriger Erfahrung können Walnussblätter äußerlich bei leichten Hautentzündungen und bei übermäßiger Schweißabsonderung der Hände und Füße eingesetzt werden. Walnussblättertee ist aber auch trinkbar, wenn man den leicht bitteren-zitronigen Geschmack mag. Noch mehr interessieren uns aber jetzt die unreifen Nüsse, die uns in der Zeit rund um Johanni erstmals beschert werden, wenn sie vom Baum heruntergefallen sind. Ich habe gestern einige Exemplare aufgesammelt (unser Baum trägt leider nur in der Krone, und die Ausbeute ist gering). Die grüne Schale mit dem unreifen Kern kann süßsauer eingelegt oder in hochprozentigem Wodka oder Obstler 6-8 Wochen mit Gewürzen ausgezogen und ein Likör daraus fabriziert werden. Bloß nicht ohne Handschuhe die gerbstoffreiche grüne Schale schneiden! Die Strafarbeit lohnt aber! Walusslikör schmeckt nicht nur ausgezeichnet, sondern verbessert nach volksmedizinischer Erfahrung auch die Darmflora, wurde früher gar gegen Parasiten eingesetzt, wie Sieglinde uns zu berichten weiß.
Gut für die Verdauung ist auch unsere letzte Arzneipflanze – die Engelwurz. Im Vorjahr hat die zweijährige Pflanze wie erwartet nur eine Rosette gebildet – erst heuer im zweiten Jahr entwickelte sie naturgemäß ihre spektakuläre Dolde und wurde mannshoch. Nach der Samenbildung aber hat sich die Pflanze ausgepowert, wirft ihre riesengroßen, gelb gewordenen Fieder-Blätter ab und stirbt. Das war zu erwarten, ist nun aber leider zu früh passiert, und statt des tollen Habitus auf unserem Werbe-Flyer ragt nur noch das nackte Gerippe in die Luft – zwei Teilnehmerinnen greifen etwas Samen ab.
Nichtsdestotrotz erläutern wir diese Pflanze ausführlich:
Der Name „Engel“ – der auch im botanischen Gattungsnamen Angelica wiederkehrt –, bezieht sich möglicherweise auf die Überlieferung, dass der Erzengel (archangelica) Raphael einen Einsiedler auf die heilkräftige Pflanze aufmerksam gemacht habe. Vielleicht geht er aber auch auf die dürren – engelsgleichen – Seitenhaare des Wurzelstocks zurück, den ich im Herbst ernten und zu einer Teedroge schneiden möchte. Die Wurzel enthält ein ätherisches Öl mit Mono- und Sesquiterpenen; an seinem typischen moschusartigen Geruch ist es unverkennbar. Alle Pflanzenteile enthalten außerdem – ähnlich wie der Riesen-Bärenklau – Furanocumarine, die auf der Haut zu phototoxischen Reaktionen führen können, weshalb man nicht ohne Handschuhe mit dem Gewächs hantieren sollte. Engelwurztee und Fluidextrakt/Tinktur (als Tropfen) sind nach traditioneller Anwendung indiziert zur Unterstützung der Verdauungsfunktion und der Magen-Darm-Funktion (gegen Völlegefühl und Appetitlosigkeit, leichte Bauchkrämpfe und Blähungen), die Qualität der für Medizin in Thüringen, Polen und Holland auch in Kulturen angepflanzte Droge ist im Europäischen Arzneibuch festgeschrieben.
Volksheilkundlich kann die Engelwurz noch mehr: Aus einem Ölauszug lässt sich ein Kraftbalsam oder eine Erkältungssalbe zubereiten, und auch als Badezusatz hat Engelwurzöl kräftigende Eigenschaften. Bei einer Einreibung aber auf die Furanocumarine achten und nicht in die Sonne gehen!
Engelwurz war auch ein ein optionaler Bestandteil des so genannten „Vier-Räuber-Essigs“ (Vinaigre des 4 voleurs), um den sich eine spannende Geschichte aus der Zeit der südfranzösischen Pestepidemie um 1720 rankt: Vier Diebe marodierten seinerzeit durch die verlassenen Häuser der Pesttoten und raubten alles, was nicht niet- und nagelfest war – und das, ohne sich mit der Krankheit anzustecken! Als man sie schnappte, versprach man ihnen die Freiheit, sofern sie das Geheimnis ihres Schutzes verrieten – es war ein starker Mehr-Kräuter-Essig, den sie unter den Schnabelmasken auftrugen und einnahmen. Noch heute sind verschiedene Rezepturen im naturheilkundlichen Umlauf, die – was man damals nicht wissen konnte – durch ihre Inhaltsstoffe zur Abtötung von Bakterien und Viren vielerlei Art beitragen können; Natur-Apothekenprodukte sind noch heute gegen Erkältungen im Einsatz. Ich habe mich selber vor einer Woche an einem Ansatz mit Mittelmeerkräutern, Engelwurz und Bio-Apfelessig versucht, der noch eine weitere Woche stehen muss, bevor er abfilterungsfähig ist. Bloß nicht pur trinken! – das schmeckt verboten! Bei grippalem Infekt ins Gurgelwasser oder verdünnt einnehmen.
Nicht offizinell sind die Blätter und Stängel, doch sind sie gerebelt als Gewürz im Handel, und wiederum sind es die Franzosen, die uns bei der Verwendung in der Küche etwas vormachen: Geschnittene junge Engelwurzstängel lassen sich bei wiederholter Aufkochung mit Zucker, Zitronensaft und Wasser zu Sirup verarbeiten. Dann nimmt man die nunmehr mit einer dicken Zuckerschicht überzogenen Stängel heraus und lässt sie gut trocknen – wie bei kandierten Früchten. In Frankreich werden damit Torten verziert. Ich habe nur bestellte Ware vorzuführen, denn meine fasrigen alten Stängel des halbtoten Gerippes brächten in Eigenproduktion nichts Genießbares mehr zustande. Zumindest aber habe ich aus den letzten grünen Blättern und noch halbwegs brauchbaren Stängeln vor 10 Tagen wenigstens einen Sirup kochen können.
Zum Abschluss unserer Veranstaltung bieten wir diesen in zwei Varianten mit Wasser aufgegossen zur Verkostung an: Süß und leicht oder würzig-kräftig (mit mehr Pflanzenmaterial mehrfach aufgekocht), bei Bedarf mit Zitronensaft feinsäuerlich abgeschmeckt – wie es gefällt. Ein Prosit gibt es auf unserer Terrasse auf bequemen Sesseln am Präsentationstisch, auf dem wir noch einmal alles, was wir heute besprochen haben, aufgebaut haben – historische Apothekengefäße passend zu den Pflanzen, eigenhändig gesammelte Teedrogen, meine Tinkturen, Salben, Essige, Auszugsöle, einige Seifen und andere naturheilkundliche Fertigprodukte, Skripten zum Mitnehmen und Bücher zum Anschauen. Allen wünschen wir einen sonnigen Start in den Sommer – und hoffentlich auf ein baldiges Wiedersehen!