Wickel und Auflagen in der Volksmedizin

Der Herbst ist da, die Tage werden kürzer – regnerisch und mit kühlen Temperaturen starten wir in die alljährliche Erkältungssaison. Kleiner als sonst ist an diesem 14. Oktober unsere Gruppe zur Präsentation „Wickel und Auflagen“ meiner Kollegin Carmen Sigl, die im April dieses Jahres mit mir zusammen die Upgrade-Prüfung zur „Kräuterpädagogin für Volksheilkunde“ (Gundermann-Schule) abgelegt hat; einige Absagen wegen Atemwegserkrankungen – ja, gar Corona! – mussten wir leider Gottes einkassieren. Umso aufmerksamer widmet sich der verbliebene Kreis dem etwas sperrigen Thema.

Denn was sind eigentlich „Auflagen“? – schon eine schwierige Definition. In der Medizin denkt man bei diesem Begriff vielleicht zuerst an Wundauflagen. Unser Museum erhielt vor einiger Zeit eine Spende historischer Exemplare (späte 1950er / 1960er Jahre) aus der Hinterlassenschaft eines Arztes in Weyarn: Von der Firma Lohmann (gegründet 1851, seit 1998 Lohmann & Rauscher) entwickelte metalline Auflagen – die Innenseite bedampft durch Aluminiumbeschichtung -, die das Verkleben von Wunden verhindern und einen besonders schonenden Verbandswechsel ermöglichen sollten; vom selben Hersteller eine antibakterielle Schlauchgaze, die in eine Tinktur (Jod, Zinkoxid, Paraffin) getränkt wurde (eingestellte Marke Clauden). Ein wahrhaftig museales Produkt ist die in Wien 1922 erstmals nachgewiesene Stryphnon-Gaze (für Deutschland fabrizierte sie die Paul Hartmann AG in Heidenheim an der Brenz), auf die passende Salben zur Blutstillung aufgebracht wurden. Die Tochter des verstorbenen Spenders dieser Exponate, die sich auf diese Präsentation gefreut hatte, konnte leider kurzfristig nicht teilnehmen.

Aber diese Art von Wund-Auflagen meinen wir heute gar nicht. Was Carmen uns mitgebracht hat, sind Auflagen in einem weiteren Sinne – und dazu gehört grundsätzlich mal alles, was auf den Körper gelegt werden kann – von kleinen Kompressen bis zu größeren Packungen, Kissen und Säckchen (z. B. Zwiebelsäckchen, Kräutersäckchen, Kirschkernsäckchen) oder die „heiße Rolle“. Eine Sonderform der Auflage ist der Wickel: Dieser wird – wie der Name schon sagt – rund um einen Körperteil (z.B. Hals, Brust oder Bauch) geschlungen. Durch Wickel lässt sich Wärme zuführen (warme Wickel) oder auch entziehen (kalte Wickel), wodurch die Durchblutung beeinflusst wird. Gleichzeitig können Wirkstoffe in die Haut eindringen (etwa aus Kräutern oder ganz einfachen Hausmitteln, die in der Küche verwertet werden).

Carmen erläutert uns zunächst das Grundprinzip des Wickels:

  1. Innentuch (z.B. Leinen / Baumwolle), auf das die heilende Substanz an der Körperseite aufgetragen wird,
  2. Zwischentuch (nur bei feuchten Wickeln) und
  3. Außentuch (z.B. Badetuch), das die Wärme halten soll und die Nässe abhält.

Das Ganze dann fixieren mit Pflaster-Klebeband, Verbandsklammern oder Sicherheitsnadeln. Wir lassen den Wickel so lange auf dem Körper, wie er angenehm ist und seinen Zweck erfüllt. D.h. kühlende Wickel wechseln wir, wenn sie körperwarm geworden sind (manchmal schon nach einer Viertelstunde), warme dagegen können oftmals länger auf dem Körper bleiben, bis sie auskühlen und als unangenehm empfunden werden.

Nun, was bietet uns die Welt der Wickel und Auflagen? Carmen weiß spannende Tipps aus der Volksmedizin, die von Generation zu Generation weitergegeben wurden, als man von den zugrunde liegenden Wirkstoffen und Wirkmechanismen noch gar nichts wissen konnte:

  1. Zwiebelsäckchen (leicht erwärmte Zwiebelscheibe in Taschentuch gepackt und hinters Ohr gelegt) bei Erkältung gegen Ohrenschmerzen – ein altbekanntes Hausmittel, das aber nicht alle Kinder tolerieren. Dann hilft auch ein Zwiebel-Fußsohlen-Wickel – warme Wollsocken drüber, fertig! Auf den ersten Blick unverständlich: Was haben die Füße mit dem Ohr zu tun? Die Wirkstoffe sind’s – bei der Zwiebel sind’s Alliine und Flavonoide – die vom Körper aufgenommen werden und durch verschiedene chemische Reaktionen eine entzündungshemmende Wirkung entfachen können.
  2. Erwärmte Kamillen- oder Lavendelblüten im Säckchen erfüllen den gleichen Zweck; hier wirken ätherische Öle. Auch die Auflage einer Öl-Kompresse hinters Ohr (bitte nicht ins Ohr!!) kann hilfreich sein. Zu beachten ist, dass wenige Tropfen der ätherische Öle in 1 Teelöffel eines neutralen fetten Träger-Öls (z.B. Mandel- oder Jojoba-Öl) einzuarbeiten sind, denn pur auf die Haut aufgetragen können ätherische Öle Reizungen und allergische Reaktionen auslösen. Auch mit Heilwolle (am Besten unbehandelte Schafwolle vom Biohof) lassen sich Schmerz lindernde Auflagen gestalten.
  3. Heiße Zitrone ist ebenfalls ein tradiertes Hausmittel gegen Erkältungen – als Halswickel kann die Wärme zusammen mit den Inhaltsstoffen (Flavonoide / ätherisches Öl) eine entzündungshemmende, abschwellene und Schmerz lindernde Wirkung entfalten. Auch als Fußwickel lässt sich die Zitrone verwenden – volksheilkundlich eingesetzt bei Fieber.
  4. Gegen leichte, krampfartige Magen-Darm-Beschwerden, Blähungen und Flatulenzen sind Bitterfencheltee, Tinkturen und Trockenextrakte offizinell. Aus der Volksmedizin sind auch Bauchwickel mit erwärmtem gemörsertem Fenchelsamen überliefert – denn auch hier wirkt das ätherische Öl mit dem Wirkstoff Fenchon, was man seinerzeit natürlich nicht wissen konnte. Der Bitterfenchel in unserem Apothekengarten steht noch fast 2 m hoch; die reifen Fenchelsamen habe ich aber schon weitgehend von den Dolden abgeerntet und präsentiere diese in einer gedrechselten Eichenholzdose des 19. Jahrhunderts mit der Beschriftung „Sem: Foeniculi pulv:“ (kleine Abweichung – pulverisiert sind meine Fenchelsamen nicht). Carmen mahnt mit Recht zur Vorsicht: Bei starkem akutem Bauchschmerz, hinter dem möglicherweise ernste Ursachen stecken, nicht lange mit einem Wickel herumdoktern, sondern ab zum Arzt / oder gar den Krankenwagen rufen.
  5. Schon seit Jahrhunderten bei Bronchitis bewährt ist der Brustwickel. Hier werden Balsame körperseitig auf das Innentuch aufgetragen – ein Klassiker ist die Thymian-Erkältungssalbe. Das ätherische Thymianöl besteht bis zu 50% aus Thymol, das für seinen charakteristischen Geruch und die Schleim lösende, entzündungshemmende und antimikrobielle Wirkung ver­antwortlich ist. Carmen hat aber auch noch ein weniger bekanntes Mittel auf dem Radar – einen Engelwurzbalsam. Das ätherische Öl dieses Doldenblütlers, der im Sommer in unserem Apothekengarten ebenfalls spektakuläre 1,50 m hoch stand, war mir bisher nur gegen Verdauungsbeschwerden bekannt, jedoch gehört auch Bronchitis zu seinen offizinellen Indikationen. So lernt man nie aus! Für unser Pariser Porzellan-Standgefäß mit attraktivem Palmen-Schlangen-Dekor (Maison Acloque) mit der Kartuschen-Etikettierung Conserva angelicae habe ich das sperrige fingerdicke Rhizom mühsam klein geschnitten und als Teedroge eingefüllt, aber auch noch zwei ganze Stücke als Anschauungsunterricht für die Teilnehmerinnen übrig gelassen. Ursprünglich enthielt das Gefäß lt. Beschriftung indes kandierte Engelwurz-Stängel.
Porzellangefäß "Cons: Angelicae"
Französisches Porzellangefäß Conserva Angelicae – kandierte Engelwurz (1804-1814)
Holzdose Sem Foeniculi Pulv
Holzdose Pulverisierter Fenchelsamen
(19. Jahrhundert)

Wer so einen Balsam nicht zur Hand hat, kann einen Brustwickel auch mit gekochten und zerdrückten warmen Kartoffeln probieren – ein weiteres historisches Hausmittel der Volksmedizin. Von den Inhaltsstoffen der Kartoffel her sehe ich zwar keinen nachvollziehbaren Wirksamkeitsnachweis – außer dass die schiere Wärme natürlich die Durchblutung fördert und dadurch wohl indirekt geeignet scheint, den Schleim zu lösen. So erklärt es auch Carmen.

Bisher haben wir uns mit warmen Wickeln beschäftigt – gegen Muskel- und Gelenkschmerzen kommen indes häufig kalte zum Einsatz, insbesondere bei Prellungen und Verstauchungen zur Abschwellung und Kühlung. Offizinell sind Retterspitz-Wickel – keine Pflanze, sondern ein nach ihrer Nürnberger Erfinderin (1851-1905) benanntes Heilwasser. Aus dem Kraut des Kriechenden Günsels hat Carmen eine Tinktur im Gepäck. Diese nicht mehr offizinelle Pflanze der Volksheilkunde ist in der zeitgenössischen Phytotherapie fast ganz vergessen. Auf unserer Naturwiese im Apothekengarten wuchsen im Sommer herrlich blau blühende große Teppiche des Lippenblütlers, die nun leider in verblühtem Zustand schon dem herbstlichen Mähdrescher zum Opfer gefallen sind. Gegen rheumatische Entzündungen und Arthrose-Schmerz kann nach volksmedizinischer Tradition auch ein simpler Quarkwickel hilfreich sein. Kein Hokuspokus – vielleicht macht’s nicht nur die Kühle, sondern auch die Inhaltsstoffe: Einige Experten benennen das phosphorsäurehaltige Kasein, das die Poren öffne, durch die Milchsäure eindringe und den Stoffwechsel zum Abtransport der Entzündungen auslösenden Substanzen anrege. Genau ist das aber nicht untersucht. Auch Wickel von blanchierten und dann abgekühlten großen Weißkohl- oder Wirsingblättern gegen Arthrose sind bekannt – hier wirken Senfölglykoside, wie man heute weiß.

Noch Fragen zum Thema? Im Moment ist das genug Stoff zum Verarbeiten. Ganz wichtig: Die von uns vorgestellten Hausmittel der Volksmedizin wurden aufgrund langjähriger Erfahrung zur Linderung von Schmerzen und Beschwerden von Generation zu Generation tradiert. Sie ersetzen keinen Arztbesuch zur Abklärung, Diagnose und Therapie, insbesondere nicht bei länger anhaltenden und stärkeren Symptomen. Manche Anwendungen können in Absprache mit dem Arzt die verordnete Therapie wirkungsvoll unterstützen.

Wer es genauer wissen möchte, findet detaillierte Informationen in zwei Büchern, die auf unserem Präsentationstisch ausliegen, Heilsame Wickel und Auflagen von Ursel Bühring und – speziell für Kinder – Bärenstarke Hausmittel von Ursula Uhlemayr. Zudem liegen einige Markenprodukte auf unserem Tisch; eine gute Quelle, aus der Carmen schöpft, ist die fast 75 Jahre alte Bahnhof-Apotheke Kempten, in der noch – wie seinerzeit in der ebenfalls 1950 gegründeten Hubertus-Apotheke Valentin Mayring – zahlreiche Tees, Aromamischungen, traditionelle Hausmittel und individuelle Rezepturen eigenhändig hergestellt werden.

Damit Wickel und Auflagen für uns alle hoffentlich so schnell nicht nötig werden, kredenzen wir – wie häufig nach unseren Veranstaltungen – zur allgemeinen Stärkung ein Schlückchen unserer selbst fabrizierten Lebenswässerchen: Meinen Petersilien-Herzwein nach Hildegard von Bingen (in der Rezeptur der Gundermann-Schule Karin Greiner) sowie den Walnuss-Likör von grünen Johanni-Nüssen (süße Variante ohne Wermut); Carmen hat uns leckere Frucht-Liköre mitgebracht – Quitte/Zimt, Quitte/Vanille und Weißdorn. Der schiere Placebo-Effekt? Nuja ….. wir wissen ja, allein der Glaube versetzt Berge (passt auch auf die Wirksamkeit unserer kleinen Verführungen). Also wohl bekomm’s allseits und bis bald wieder!

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